ObwohlClaudia Basrawi schon seit 7-8 Jahren ununterbrochen als Autorinvon Prosa-texten und u.a. psychogeografischen Berichtenhauptberuflichtätig ist, ist „Mittelmeer Anämie“ ihr erstes Buch. Für den Verlagbbooks ist es gleichermaßen auch ein erstes Buch, da es eher dem Romanverwandt ist, als der Theorie und Wissenschaft, also den Feldern, diebisher im Verlagsprogramm zu finden waren. „Mittelmeer Anämie“ungestraft einen Roman zu nennen, ist falsch. Denn der Text ist wenigerBehauptung als erlebte Erinnerung und Gegenwart. Eine Gegenwart- zumZeitpunkt des Geschriebenen und danach- kondensiert, verfeinert zueinem Text, der sich wie ein fiktiver liest.
Gewissermaßen liest ersich als Reisetagebuch, bzw als zwei/drei Reisetagebücher, die dieAutorin stets, nahezu permanent aneinander vergleicht. Es scheint, dassdie Ich-Erzählerin, in diesem Fall die Autorin Claudia Basrawi, jede Feststellung, jedes Gefühl, jedes Urteil durch unaufhörlicheNeuinterpretation von allem Dogmatischen entkrampft, mehre Maleausleuchtet und durchsiebt hat und dennoch bei aller Idiosynkrasie,Launenhaftigkeit, und Gefühlshaushalte, die der Leser anfindet, dabeieinen , von der ersten bis zur letzten Seite, unverschämt lässigen Ton kreiert.
Reiseliteraturinteressiert die Autorin schon lange, das geht zurück zu einer Zeit, als die studierte Arabistik/Politikwissenschaftlerin Basrawi für ihre Magisterarbeit inden 90ern ihren Blick auf die erotischen Gemälde Delacroix über das Land der Tausend und einen Nächte sowie Gustave Flauberts Faible fürdas Morgenland mittels der wissenschafts-kritischen Schriften EdwardSaids , Peter Burkes und Elaine Showalters geschärft hatte. ClaudiaBasrawi ist als Tochter einer deutschen Mutter und eines irakischen Vaters in Deutschland aufgewachsen und in Beirut geboren und hat dortals Kleinkind die ersten 4 Jahre gelebt. Das analytische Wissen einerArabistin sowie die Kindheitserinnerungen und aufgeschriebenen Reiseerlebnisse, die sie als blutjunge Studentin in Alexandria,Damaskus, Kairo gemacht hatte, sind das Gepäck, das sie 2004 als Autorin eines lang angelegten Reiseromans mit auf eine neue,hochreflektorische Reise nimmt. Mit von der Partie sind Nico undAlessio, zwei bbooks-Verlag -und Kollektiv-Mitglieder aus Berlin, umgemeinsam mit Claudia Basrawi, quasi als Nebenprojekt, einen Teil eines Omnibus-Films zu realisieren. Sie machen sich auf die Spur von Jean Genet, um die Wurzeln seiner Sympathien für die Palästinenser, dasInteresse an einer schwulen und geheimen Kultur im Orient, seine Vorliebe für die armen kleinen Kinderdiebe und Jugenstricher zuerforschen. Und schon sind wir mitten in einem beschwingten Roman.Claudia Basrawis Text durchzieht von der ersten Zeile an, ein luftiger,schon fast heute verdrängter Ton der Boheme. Kein Wunder, denn einVorbild des kleinen Filmteams ist die Nouvelle Vague und die Ära derCamero Stylo. Ab der ersten Seite des Buches werden ununterbrochen,zumindestens von den Männern, Gitanes und Gauloises geraucht. Undüberall ist die Sonne zu spüren.
Schon baldkommt die Hauptprotagonisten Fatima hinzu, eine syrische Palästinenserin, die in Kairo lebt und das Filmteam auf der Expedition begleitet. Was aus dem Film wird, erfährt man nicht, im letzten Kapitel ist dann Claudia Basrawi plötzlich zurück aus Berlin, aber diesmal allein, nach Kairo geflogen. Alles in diesem Buch ist stetigen kleinen Brüchen undVerwerfungen unterworfen, im Text, wie im Leben. Politisch hat dieAutorin einen festen Standpunkt, der aber von ihr selbst sowie durchdie Begebenheiten und von den Protagonisten stets ausgelotet undauseinander genommen wird. Wie die Autorin, so lernen wir als Leser,scheinbar nebensächlich, Neues über den Islam, über den Alltag imOrient und die politische Situation kennen.
ClaudiaBasrawi, hat während der ganzen Jahre, als Autorin anderweitige Texte verfasst, umsich für eben diesen(weil sie die Fallstellen des Blicks des Europäersauf den Orient aufgrund ihrer eigenen Studien so gut kennt) Muße undRuhe zu nehmen. Sie hat sich Zeit gelassen. Somit durchweht jede Zeiledieses Buches diese einprägsame Lässigkeit im Ton.
Am ehestenwürde ich dieses Buch mit einem Film, der in Mexiko spielt, vergleichen, mitY MAMA TAMBIEN, ein Film von Alfonso Cuaron, der es schafft politischeund soziale Analyse wie nebenbei zu erzählen.
Den Umschlag von„Mittelmeer Anämie“ ziert eine Zeichnung von Marc Brandenburg, ein miteinem Bleistift entworfenes Abbild eines Aschenbechers imNegativ-Verfahren gezeichnet. Sowohl die Titelschrift und die Zeichnungsind im Blauton gehalten, der Farbe des Mittelmeers. Das Meer und einAschenbecher –ein auf den ersten Blick seltsames schiefes Bild. Schonjetzt begibt man sich auf einen schwankenden Boden. So ist das eben-mit diesem: „auf den ersten Blick“.
Ich empfehle die Lektüre im Liegen zu lesen.
Mario Mentrup, 2009