Der politische Gehalt eines Films, Ranciere sucht ihn weder im expliziten Inhalt noch im latenten, unbewussten. Er sucht ihn im Sichtbaren und dem politischen Regime, dem es sich verdankt. Das reine passive Intime Dasein der Dinge, das Film ausmacht, ob narrativ oder ästhetisch, ist aber nicht einfach die Wahrheit des Mediums, es verdankt sich immer nur den verschiedenen filmischen Formen, es zu durchkreuzen.
Ein Mädchen und ihr Mörder vor einer Schaufensterscheibe, eine schwarze Silhouette, die eine Treppe herabsteigt, eine Frau, die in eine Gewehrsalve hineinläuft: diese Bilder von Lang oder Murnau, Eisenstein oder Rossellini ikonisieren das Kino, aber auch seine Paradoxe. Das Zusammenfallen von künstlerischer Absicht, Story und dem teilnahmslosen Blick der passiven Dinge verursacht eine innere Unruhe im Kinematographischen, eine Zerrissenheit. Für Rancière liegt in den Gegensätzen von narrativem Drive und Passiv-Werden jedoch ein systematisches "Durchkreuzen", das schon im "ästhetischen Regime" der Romantik enthalten ist: ihre Philosophie hat es in Begriffe gefasst, der Roman und das Theater bereits auf ihre Weise zu realisieren versucht. Das Kino erfüllt diese Erwartungen aber nur zu dem Preis, ihm gleichzeitig zu widersprechen. Frühe Filmtheoretiker wie Jean Epstein bejubeln im Kino der 20er Jahreeine neue Sprache der Ideen, die fühlbar geworden sind, die die alte Kunst der Stories und Figuren überflüssig mache. Eingetreten ist das jedoch nicht. Dass das Kino -- nicht nur dasjenige Hollywoods -- die konventionellen Intrigen, die Prototypen und überholten Genres am Ende spektakulär wiederbelebte, die doch von moderner Literatur und Malerei in Stücke gerissen war, das ist für Rancière mehr als nur ein Roll-back, es entspricht der inneren Dynamik dieses Gegensatzes.
Für Jacques Rancière findet dieser Konflikt zwischen antagonistischen Poetiken, Jean Epsteins Traum und Jean-Luc Godards entzauberter Enzyklopädie, zwischen dem Abschied vom Theater und der Begegnung mit dem Fernsehen, mit James Stewart im Western und Gilles Deleuze im Land der Begriffe und er zeigt darin wie die Kinofabel eine durchkreuzte Fabel ist. Von hier ausgehend lösen sich für am Ende auch die Grenze auf zwischen Dokument und Fiktion. Traum des 19. Jahrhunderts, erzählt das Kino uns die Geschichte des 20. Jahrhunderts.
ebenfalls erschienen
jacques rancière . die aufteilung des sinnlichen
Prolog
11 Eine durchkreuzte Fabel
DIE FABELN DES SICHTBAREN
Zwischen dem Zeitalter des Theaters und dem des Fernsehens
39 Der Wahnsinn Eisensteins
55 Der stumme Tartüff
71 Von einer Menschenjagd zur nächsten:
Lang zwischen zwei Epochen
99 Kinderregie
KLASSISCHE ERZÄHLUNG, ROMANTISCHE ERZÄHLUNG
I15 Etwas, das zu tun ist:
die Poetik von Anthony Mann
143 Die abwesende Einstellung: die Poetik von Nicholas Ray
GÄBE ES EINE KINEMATOGRAPHISCHE MODERNE
161 Von einem Bild zum anderen? Deleuze und die Epochen des Kinos
187 Körper im freien Fall: Rossellinis Physik
213 Rot wie La Chinoise: Godards Politik
KINOFABELN, GESCHICHTEN EINES JAHRHUNDERTS
231 Die dokumentarische Fiktion:
Marker und die Fiktion des Erinnerns
253 Eine Fabel ohne Moral:
Godard, das Kino, die Geschichten
277 Filmindex